"Ein Leben am Seidenen Faden" (engl. Originaltitel: Life Hanging on a Spider Web) - Unter diesem Titel veröffentlichte Karl Littner, der Onkel des Kolbermoorer SPD-Ortsvereins-Vorsitzenden Stefan Derk, seine Autobiografie.
Derk - Lehrer, Übersetzer und Mitherausgeber des Buchs in deutscher Sprache, nahm den 9. November, den 85. Jahrestag der Reichspogromnacht, zum Anlass, im evangelischen Gemeindesaal in Kolbermoor Passagen aus diesem Werk zu lesen und mit einigen Bildern aus dem Buch zu veranschaulichen.
Karl Littner, polnischer Jude, 1924 in Auschwitz-Zasole geboren, beschreibt zunächst eine glückliche Kindheit und Jugend sowie das beschauliche, bäuerlich geprägte Leben in dem kleinen Städtchen. Bereits in dieser Zeit sah er sich allerdings mit anti-jüdischen Schikanen konfrontiert. Am 1. September 1939 überfiel Nazideutschland Polen, die Judenverfolgung begann und damit auch der mehr als fünfjährige Leidensweg Karl Littners. Nach der Deportation und Ermordung seines Vaters verbrachte er mit der Mutter eine kurze Zeit in der Stadt Sosnowiec/deutsch: Sosnowitz, die später zum Getto umgewandelt wurde. Es folgten Aufenthalte in mehreren Zwangsarbeitslagern. Es gleicht einem Wunder, dass Littner schon diese Zeit überlebte, trotz schwerster Zwangsarbeit und absolut unzureichender Ernährung (z.B. 100g Ersatzbrot aus Sägemehl und Getreidespelzen soweit eine Schüssel Wassersuppe, insgesamt nur 500 Kalorien pro Tag !!!).
Die letzte kurze Episode ab September 1942, vor seiner Inhaftierung im KZ Auschwitz-Birkenau, war das Ghetto Srodula. Nach der Auflösung des Gettos, die für viele Bewohner - so auch Littners Mutter - den Tod bedeutete, erreichte er, mit anderen Überlebenden in Vieh- oder Güterwaggons verladen, die Rampe von Auschwitz. Hier erfolgte die Selektion, „das bedeutete eingeteilt zu werden, nach rechts oder links zu gehen. Diejenigen, die nach links geschickt wurden, waren zur Vergasung und Verbrennung bestimmt.“ Der Aufenthalt in Auschwitz-Birkenau brachte für den gerade 18-jährigen unglaubliche Schikanen und kaum auszuhaltende körperliche sowie seelische Misshandlungen. Ein, vor allem jüdisches, Menschenleben galt nichts – ein Leben am seidenen Faden….
Karl, eher einem wandelnden Skelett gleichend, spürte, dass ein weiterer Aufenthalt in Auschwitz-Birkenau seinen sicheren Tod bedeuten würde. Aber eine Flucht war unmöglich! Zufällig suchte die SS im September 1943 600 KZ- Insassen aus Birkenau, um anderenorts ein neues Lager, das KZ Fünfteichen, zu errichten. Und Karl wurde als einer der letzten mit der Nummer 587 ausgewählt.
Im neuen Lager gleichfalls ein einziger Kampf ums Überleben. Wenige Monate nach der Ankunft war die Mehrheit der 600 Birkenauer Juden vor Erschöpfung gestorben oder von skrupellosen Kapos getötet worden. Die Monate im KZ Fünfteichen konnte Karl überleben, bis Mitte Januar 1945 das Lager wegen des Vormarsches der russischen Truppen geräumt werden musste. Ein Todesmarsch für 30.000 Menschen begann. Karl Littner überstand die unvorstellbaren Strapazen, circa 15.000 Mitgefangene aber nicht. Eine Hälfte der Überlebenden trat danach bei schrecklicher winterlicher Kälte einen Transport in offenen, total überfüllten Kohlewaggons aus Buchenwald (dort war die Endstation des Marsches aus Fünfteichen gewesen) in eine unbekannte Zukunft an. Am 15. Februar 1945 erreicht dieser Todeszug das KZ Mauthausen, „von den 30000, die im Januar losmarschiert waren, kamen nur wenige hundert einen Monat später dort an.“ Irgendwie schaffte es Karl, diese Zeit in Mauthausen zu überleben. Zuletzt erfolgte die Überstellung in das Lager Gusen II, das Schlimmste der 45 Nebenlager Mauthausens. Die durchschnittliche Überlebenszeit für Juden betrug hier 3-4 Monate…. Karl fand seinen Einsatzort im "Bergkristall -Stollen", Ort der Produktion von Flugzeugrümpfen und Einzelteilen für Messerschmitt-Düsenflugzeuge. Wie die meisten seiner Leidensgenossen erkrankte er aufgrund der katastrophalen hygienischen Zustände an Ruhr, überstand sie erstaunlicherweise und wurde am 5. Mai 1945 von amerikanischen Truppen befreit.
Der weitere Lebensweg führte ihn zunächst nach Niederbayern, wo er in Straubing das "Marerl", die Schwester von Derks Mutter, kennenlernte und später als Ehefrau gewann. Nach einigen Jahren in Israel und einer erneuten Zeit in Deutschland übersiedelte er mit seiner Frau und den beiden in Israel geborenen Kindern schließlich in die USA, wo er bis zu seinem Tod kurz vor dem 90. Geburtstag im Jahr 2014 lebte.
Die Eindrücke der geschilderten schrecklichen Erlebnisse wurden durch die gezeigten Bilder noch verstärkt. Viele der rund 40 Zuhörer verließen den evangelischen Gemeindesaal erschüttert, nicht wenige mit Tränen in den Augen.